Unsicherheiten bei der Klassifizierung medizinischer Software: eine aktuelle Bestandsaufnahme
Klassifizierung medizinischer Software
Der nachstehende Beitrag gibt einen Überblick über die medizinprodukterechtlichen Grundlagen für die Klassifizierung medizinischer Software unter Berücksichtigung bestehender Auslegungshilfen, aufsichtsbehördlicher Verwaltungspraxis sowie Rechtsprechung.
Höchste Präzision bei der Formulierung der Zweckbestimmung
Erfüllt die Software die Anforderungen an ein Medizinprodukt nach der MDR, dient sie also einemdiagnostischen oder therapeutischen Zweck, stellt sich die Frage nach der Risikoklasse.
Entscheidend sowohl für die Einstufung als Medizinprodukt als auch seine Klassifizierung ist in erster Linie die vom Hersteller gegebene subjektive Zweckbestimmung, wie sie sich aus den Angaben ergibt, die der Kennzeichnung, der Gebrauchsanweisung oder der Werbung entnommen werden kann. Die Zweckbestimmung muss alle Funktionalitäten der Software umfassend beschreiben. Hersteller haben einen Gestaltungsspielraum bei der Zweckbestimmung und können, sofern diese klar, widerspruchsfrei und nachvollziehbar ist, Produkte mit potenziell medizinischem Nutzen auch gezielt auf den nicht-medizinischen Bereich wie Lifestyle oder Wellbeing beschränken. Nur für den Fall, dass eine nicht-medizinische Verwendung des Produkts nicht ohne Weiteres möglich ist, vermag auch ein entsprechender Disclaimer des Herstellers die Medizinprodukteeigenschaft des Produkts nicht zu beseitigen. Die europäische Leitlinie MDCG 2019-11 rev. 1 der Medical Device Regulation Group, die im Juni 2025 aktualisiert wurde und als Auslegungshilfe zur Anwendung der MDR für Aufsichtsbehörden und Benannte Stellen dient, betont ausdrücklich im Vergleich zur Vorgängerversion die Wichtigkeit einer präzise formulierten Zweckbestimmung, da sie die Grundlage für eine angemessene Qualifizierung und Klassifizierung einer Software bildet.
Die Regel 11 und der Streit um medizinische Software der Risikoklasse I
Für die Klassifizierung von medizinischer Software ist Regel 11 des Anhangs VIII MDR relevant. Nach Unterregel (a) – nachfolgend: Regel 11a – wird Software, die dazu bestimmt ist, Informationen zu liefern, die zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen werden, der Klasse IIa zugeordnet, bei besonderem Gefährdungspotenzial der Software auch den höheren Risikoklassen IIb oder III. Software zur Überwachung von physiologischen Prozessen wird nach Unterregel (b) mindestens in die Risikoklasse IIa eingestuft. Gemäß Unterregel (c) fällt (nur) sämtliche andere Software in die Risikoklasse I.
In der Praxis bereitet die Auslegung der Regel 11a erhebliche Probleme und führt zu Rechtsunsicherheiten.Diese erfasst insbesondere sogenannte Entscheidungsunterstützungssysteme (Decision Support System – DSS), die sich dadurch auszeichnen, dass sie nach der Zweckbestimmung dazu bestimmt sind, Informationen zu liefern, die für Diagnose- oder Therapieentscheidungen genutzt werden können.
Aufsichtsbehördliche Verwaltungspraxis zeigt uneinheitliche Rechtsauffassungen
Auch wenn MDCG 2019-11 rev. 1 den Passus enthält, dass die in Regel 11a beschriebene Entscheidungsunterstützung charakteristisch für Medizinproduktesoftware und daher auf jede Medizinproduktesoftware anwendbar sei, zeigt sich die unterschiedliche Auslegung auch in der aufsichtsbehördlichen Landschaft. Während einige Aufsichtsbehörden die Einstufung medizinischer Software in die Risikoklasse I akzeptieren, sind andere der Auffassung, dass eine Medizinproduktesoftware immer mindestens der Risikoklasse IIa zuzuordnen ist. Das BfArM, das bei Meinungsverschiedenheiten zwischen einem Hersteller und seiner Benannten Stelle sowie auf Antrag der Aufsichtsbehörde oder des Herstellers über die Klassifizierung eines Medizinprodukts entscheidet, vertritt ebenfalls eine weite Auslegung der Regel 11a und ist der Ansicht, dass es für die Anwendbarkeit keine Rolle spielt, ob die Entscheidung eines Laien oder eine Fachkraft durch die Software unterstützt wird. Mitunter ist den Unternehmen zu empfehlen, ihren Sitz in das Gebiet einer weniger strengen Aufsichtsbehörde zu verlegen.
Risikobasierter Ansatz muss Überregulierung verhindern
Bei der Auslegung der Regel 11a ist der risikobasierte Ansatz der MDR zu beachten, der eines ihrer Grundprinzipien darstellt. Dieser Ansatz stellt sicher, dass die Anforderungen an die Sicherheit und Leistung von Medizinprodukten proportional zu den potenziellen Risiken sind, die mit ihrer Verwendung verbunden sind. Jedenfalls bei medizinischer Software, die medizinischen Laien niedrigschwellige Gesundheitsinformationen zur Verfügung stellt, ist eine Überregulation zu vermeiden und eine Einordnung in die Risikoklasse I scheint in vielen Fällen angemessen. Während also eine App für medizinische Laien zum Screening von Hautläsionen zur Einschätzung des Hautkrebsrisikos der Risikoklasse I wohl nicht mehr zugeordnet werden kann und die Beteiligung einer Benannten Stelle im Konformitätsbewertungsverfahren angemessen erscheint, wirkt die Einstufung in Risikoklasse IIa oder höher bei niedrigschwelligen Apps mit einem geringen Risiko für Fehlinformationen im Zusammenhang mit Diagnostik und Therapie (z. B. App zur Behandlung von Dyslexie, Software zur Feststellung von Allergenen in Medikamenten) unangemessen hoch.
Die Maßgeblichkeit des risikobasierten Ansatzes zeigt sich auch in MDCG 2019-11 rev. 1, wonach im Rahmen der Risikoklassifizierung die risikobasierten Grundsätze des International Medical Device Regulators Forum (IMDRF) zu beachten sind. Nach der IMDRF vollzieht sich die Risikoklassifizierung einer medizinischen Software auf der Grundlage der Kombination aus der Bedeutung der von der Software bereitgestellten Informationen für eine medizinische Entscheidung und dem Gesundheitszustand des Patienten bzw. der Patientin. Treffen also niedrigschwellige Gesundheitsinformationen auf wenig schwerwiegende Gesundheitszustände von Patient*innen, ist regelmäßig eine Einordnung in Risikoklasse I angemessen. MDCG 2019-11 rev. 1 nennt als neues Beispiel für eine Software der Risikoklasse I eine App, die Menschen mit Sprachstörungen hilft, indem sie Symbole in gesprochene Sprache umwandelt.
Diagnose und Therapie ausschließliche Kompetenz von (Zahn-)Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen
Im Zusammenhang mit Medizinproduktesoftware, die von Laien verwendet wird, besteht Uneinigkeit darüber, ob Regel 11a Anwendung findet. In der Fachliteratur wird diskutiert, ob diese Regel ausschließlich auf Software anzuwenden ist, die durch medizinisches Fachpersonal genutzt wird.
Die gebotene juristische Auslegung verlangt mit dem Blick auf Wortlaut und Sinn und Zweck eine restriktive Interpretation der Regel 11a. Diese stellt auf die Diagnose und Therapie ab. Die Diagnose stellt die bewertende Zusammenfassung der beim Patienten erhobenen Symptome und Befunde dar und ermöglicht so die Ableitung einer spezifischen Erkrankung. Die Therapie umfasst sämtliche Maßnahmen zur Behandlung von Krankheiten, für die auf Basis der gestellten Diagnose eine Indikation besteht. Diagnose- und Therapieentscheidungen sind heilkundliche Tätigkeiten. Heilkunde umfasst jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen. Dazu zählen auch die Psychotherapie zur Behandlung seelischer Störungen mittels psychotherapeutischer Verfahren sowie die Zahnheilkunde zur Behandlung von Zahn-, Mund- und Kiefererkrankungen.
Für die Behandlung von Krankheiten sind Ärzt*innen zuständig, psychotherapeutische Leistungen übernehmen Psychotherapeut*innen und Zahnprobleme fallen in den Bereich von Zahnärzt*innen. Auch Heilpraktiker*innen dürfen mit entsprechender Erlaubnis behandeln. Voraussetzung ist immer eine fundierte Ausbildung oder ein Studium im medizinischen Bereich. Die Erlaubnis zur Berufsausübung – sei es die ärztliche, zahnärztliche oder psychotherapeutische Approbation oder die Heilpraktikererlaubnis – wird erst nach erfolgreichem Abschluss aller geforderten Prüfungen erteilt. Zudem gilt eine Tätigkeit erst dann als berufsmäßig, wenn sie regelmäßig, auf Dauer angelegt und auf Erwerb ausgerichtet ist. Gewerbsmäßigkeit liegt vor, wenn die Tätigkeit planmäßig erfolgt und mit der Absicht verbunden ist, regelmäßig Einnahmen zu erzielen.
Ärztliche oder zahnärztliche Behandlung bleibt wegen des Arztvorbehalts den Ärzt*innen oder Zahnärzt*innen vorbehalten, d. h. den Personen mit staatlicher Approbation als Arzt bzw. Ärztin oder Zahnarzt bzw. Zahnärztin entsprechend dem ärztlichen Berufsrecht (BÄO, Approbationsordnung für Ärzte; Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde, Approbationsordnung für Zahnärzte). Diagnose- und Therapieentscheidungen gehören zum Kernbereich (zahn)ärztlicher Leistungen und sind aufgrund der Höchstpersönlichkeit nicht delegierbar. Medizinische Laien sind grundsätzlich nicht in der Lage, ärztliche Diagnose- und Therapieentscheidungen zu treffen. Das hat zur Folge, dass Regel 11a grundsätzlich nicht auf medizinische Software anwendbar ist, die zur Anwendung durch medizinische Laien bestimmt ist. Diese Auffassung vertreten glücklicherweise auch einige Aufsichtsbehörden.
Die Anwendbarkeit der Regel 11a hängt also bereits in vielen Fällen davon ab, ob die Software von medizinischem Fachpersonal oder von medizinischen Laien genutzt wird. Dies wird auch durch die MDCG 2021-24 Guidance on classification of medical devices bestätigt. In diesem Dokument werden als Beispiele für medizinische Software, die unter Regel 11a fallen, ausschließlich Produkte genannt, die von medizinischem Fachpersonal verwendet werden, beispielsweise eine Software, die dazu bestimmt ist, therapeutische Vorschläge für das medizinische Fachpersonal auf der Grundlage von Patientenanamnese, bildgebenden Testergebnissen und Patientenmerkmalen zu unterbreiten, oder Software, die alle verfügbaren Chemotherapieoptionen für BRCA-positive Personen auflistet und einordnet, sowie eine Software für kognitive Therapie, bei der ein Spezialist oder eine Spezialistin auf der Grundlage der von der Software gelieferten Ergebnisse die erforderliche kognitive Therapie bestimmt. Ähnlich verhält es sich mit den in MDCG 2019-11 rev. 1 genannten Klassifizierungsbeispielen für die Regel 11a.
OLG Hamburg mit zweifelhafter Auslegung der Regel 11
Im Zusammenhang mit der Regel 11a ist die viel diskutierte Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Hamburg aus dem Jahr 2024 zu erwähnen, die eine Software mit der Zweckbestimmung zur asynchronen Untersuchung von Hautveränderungen durch Aufnahme, Speicherung und Übermittlung von digitalem Bildmaterial von den betroffenen Hautarealen sowie das Ausfüllen eines Anamnesebogens und die Kommunikation (Chat) mit Fachärzten als Medizinprodukt eingestuft hat. Nach Ansicht des Gerichts verlange die Regel 11a nicht, dass die Software selbst Diagnosen erstelle oder Informationen generiere, produziere, hervorbringe oder herstelle, indem z. B. die Software eine eigenständige Auswertung bzw. Analyse oder diagnostische Bewertung der mitgeteilten, gemessenen oder fotografierten Daten und Bilder vornimmt. Vielmehr sei derBegriff des Lieferns von Informationen zu Diagnosezwecken im Sinne der Regel 11a dahin gehend zu verstehen, dass jede Übertragung von Daten erfasst ist, die eine Diagnose durch den behandelnden Arzt oder die behandelnde Ärztin ermöglicht. Im vorliegenden Fall fasste das Gericht die teledermatologische Software unter Regel 11a, da die Software so programmiert war, dass die Diagnoseeinschätzung der Patient*innen und ihre Antworten Einfluss auf die weiter gestellten Fragen des Anamnesebogens und damit Einfluss auf die an den Arzt bzw. die Ärztin gelieferten Informationen haben. Die App liefere nach Ansicht des OLG Hamburg mithin das Ergebnis einer strukturierten Erhebung medizinischer Daten.
Die weite Auslegung der Regel 11a durch das OLG Hamburg dahin gehend, dass der Begriff des Lieferns jede Übertragung von Daten erfasse, die eine Diagnose durch die behandelnden Ärzt*innen ermöglicht, überzeugt nicht. Eine bloße Informationsabfrage sowie Übermittlung gesammelter Daten reicht für die von MDCG 2019-11 rev. 1 geforderte eigenständige Datenbearbeitung durch die Software (englischer Originaltext: „action on data“) gerade nicht aus. Auch die in MDCG 2021-24 genannten Beispiele zeigen, dass es für eine Anwendbarkeit der Regel 11a erforderlich ist, dass die Software durch eigene Analysen und/oder Bewertungen neue Informationen generiert, die einer Diagnose- oder Therapieentscheidung zugrunde gelegt werden. Das Urteil des OLG Hamburg ist damit nur bedingt als Grundlage für die Klassifizierung von medizinischer Software heranzuziehen.
Fazit
Die aktuelle Situation hinsichtlich der Klassifizierung von Medizinproduktesoftware nach der MDR ist weiterhin unklar; auch die Überarbeitung der MDCG 2019-11 hat daran keine wesentlichen Veränderungen bewirkt. Auch wenn es gute Argumente insbesondere unter dem Gesichtspunkt des risikobasierten Ansatzes gibt, die eine niedrige Klassifizierung rechtfertigen, gibt es derzeit keine Rechtssicherheit für Hersteller, die ihre medizinische Software als Produkt der Risikoklasse I in den Verkehr bringen, ob dies einer behördlichen Überprüfung – z. B. im Rahmen einer Inspektion – standhält. Eine Klärung dieser Rechtsfrage kann nur durch eine gerichtliche Entscheidung erreicht werden.
Zu hoffen bleibt außerdem auf eine klarstellende Anpassung der Regel 11a im Rahmen der avisierten Revision der MDR. Die Europäische Kommission führt derzeit eine Bestandsaufnahme im Hinblick auf eine Überarbeitung der EU-Vorschriften über Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika durch. Aufgrund beträchtlicher Schwierigkeiten beim Übergang zu den neuen Vorschriften hat die Kommission beschlossen, bereits 2024 mit einer gezielten Bewertung zu beginnen, obwohl eine reguläre Bewertung erst bis Mai 2027 vorgesehen war. Die Bewertung soll die Wirksamkeit, Effizienz, Relevanz, Kohärenz und den Mehrwert der Verordnungen evaluieren, wobei besonderes Augenmerk auf die Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Medizinprodukten, Kosten und Verwaltungsaufwand sowie das Vereinfachungspotenzial gelegt wird. Die Kommission führt verschiedene Konsultationsmaßnahmen durch, um alle betroffenen Interessenträger einzubeziehen und eine umfassende Bestandsaufnahme der Verordnungsdurchführung vorzunehmen.
Autor*innen: Sebastian Retter, Julia Kleinschmidt
Dies ist ein Beitrag aus unserem Healthcare-Newsletter 3-2025. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.