Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz – Anforderungen für Arztpraxen und MVZ

Seit dem 28. Juni 2025 ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz („BFSG“) in Kraft. Ziel ist es, digitale Angebote so zu gestalten, dass sie für alle Menschen, einschließlich Menschen mit Behinderungen, zugänglich und nutzbar sind. Auch das Gesundheitswesen ist erfasst: Arztpraxen und Medizinische Versorgungszentren („MVZ“) müssen prüfen, ob ihre digitalen Schnittstellen den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Wer untätig bleibt, riskiert Bußgelder von bis zu 100.000 Euro, die Untersagung digitaler Dienstleistungen (§ 29 BFSG) und weitere behördliche Maßnahmen (§ 30 BFSG).

Das BFSG im Überblick

Mit dem BFSG setzt der deutsche Gesetzgeber den European Accessibility Act (EU-Richtlinie 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen, „EAA“) in nationales Recht um. Damit werden erstmals europaweit einheitliche Standards für digitale Barrierefreiheit geschaffen.

Verpflichtete nach dem BFSG sind Hersteller, Einführer, Händler bestimmter Produkte sowie Erbringer der vom Anwendungsbereich erfassten Dienstleistungen. Im Gesundheitswesen betrifft dies Arztpraxen, MVZ und andere Leistungserbringer, soweit sie in den Anwendungsbereich des BFSG fallen.

Anwendungsbereich

Das BFSG regelt in § 1 abschließend, für welche Produkte und Dienstleistungen die Barrierefreiheitsanforderungen gelten:

  • Produkte (§ 1 Abs. 2 BFSG): Hierzu zählen diverse Hardware- und Endgeräte, die Verbraucher*innen zur Nutzung digitaler Dienste einsetzen können, etwa Computer, Notebooks, Tablets, Smartphones, E-Book-Reader oder Smart-TV. Ebenfalls erfasst sind Selbstbedienungsterminals wie Geldautomaten, Fahrausweisautomaten oder Check-in-Automaten sowie Zahlungsterminals.
  • Dienstleistungen (§ 1 Abs. 3 BFSG): Vom Anwendungsbereich der Dienstleistungen sind insbesondere Telekommunikationsdienste, bestimmte Bankdienstleistungen, E-Books und die dafür bestimmte Software, sowie der Bereich der Personenbeförderung erfasst. Auch Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr (§ 1 Abs. 3 Nr. 5 BFSG) fallen in den Anwendungsbereich der Dienstleistungen. Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr sind digitale Dienste (Telemedien), die über Webseiten und über Anwendungen auf Mobilgeräten angeboten und elektronisch und auf individuelle Anfrage eines Verbrauchers im Hinblick auf den Abschluss eines Verbrauchervertrags erbracht werden (§ 2 Nr. 26 BFSG).

Das BFSG ist demnach anwendbar, wenn ein Verbraucher über eine Website oder App einen Vertrag abschließen kann oder sich bereits vorvertraglich verpflichtet, etwa durch die Nutzung eines Buchungsformulars zur Reservierung eines Termins für den Erwerb eines Produkts oder die Inanspruchnahme einer Dienstleistung. Ob es hierbei auch auf die Entgeltlichkeit der Dienstleistung ankommt, ist noch nicht abschließend geklärt. Einige Stimmen in der Literatur gehen derzeit davon aus, dass es unerheblich sei, ob die Leistung entgeltlich oder unentgeltlich erbracht werde, sodass auch eine kostenfreie Registrierung einen Verbrauchervertrag im Sinne des Gesetzes darstellen könne.  

Für Arztpraxen sind insbesondere Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr (§ 1 Abs. 3 Nr. 5 BFSG) praxisrelevant. Darunter fallen unter anderem interaktive Bestandteile von Websites, Apps, wie Terminbuchungssysteme und digitale Formulare, die Patient*innen für die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen nutzen können.

Vom Anwendungsbereich ausgenommen sind Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten und einem Jahresumsatz oder einer Bilanzsumme von höchstens zwei Millionen Euro. Diese Ausnahme gilt nur für Dienstleistungen, nicht jedoch für Produkte. Die meisten größeren Praxen und MVZ dürften daher Verpflichtete nach dem BFSG sein.

Was muss in Arztpraxen barrierefrei gestaltet werden?

1. Praxis-Websites (oder Apps) mit interaktiven Funktionen

Die Website einer Praxis ist längst mehr als eine digitale Visitenkarte. Enthält sie interaktive Funktionen – etwa Kontaktformulare, die Möglichkeit der digitalen Rezeptanforderung, ein Patientenportal mit Log-in-Bereich oder Formulare für Gesundheitsfragebögen –, so sind diese Funktionen rechtlich als Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr nach § 1 Abs. 3 Nr. 5 BFSG einzuordnen, denn sie ermöglichen Patient*innen letztlich den Abschluss eines Behandlungsvertrags und sind daher als vorvertragliche Maßnahmen vom Anwendungsbereich der Norm erfasst. Rein informatorische Websites von Praxen, die nur Informationen über Dienstleistungen, die Praxis und das Team enthalten, fallen nicht unter das BFSG.

Wird von einer Praxis zusätzlich eine App eingesetzt, fällt diese – ebenso wie die Website – in den Anwendungsbereich des BFSG, sofern die oben genannten Funktionalitäten angeboten werden. Bietet die App eine Kommunikationsmöglichkeit mit Ärzt*innen über einen Nachrichten-Chat an, handelt es sich dabei um eine Telekommunikationsdienstleistung im Sinne von § 1 Abs. 3 Nr. 1 BFSG, die ebenfalls den gesetzlichen Anforderungen unterliegt. Die Kommunikation mit einem Chatbot hingegen ist nicht vom BFSG erfasst.

2. Online-Terminbuchung

Da bereits der vorvertragliche Bereich unter die Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr fällt, ist auch die digitale Terminbuchung ein Anwendungsfall des § 1 Abs. 3 Nr. 5 BFSG. Demnach sind auch Websites oder Apps, über die Patient*innen Termine buchen können, vom Anwendungsbereich des BFSG erfasst. Der gesamte Prozess – von der Terminauswahl bis zur Bestätigung – fällt somit in den Anwendungsbereich des Gesetzes. Wird lediglich auf eine externe Plattform verlinkt, liegt die Verantwortung beim Plattformbetreiber. Erfolgt die Terminbuchung direkt über die Praxis-Website oder App, ist die Praxis selbst verpflichtet.

3. Digitale Formulare

Ob Anamnesebögen, Rezeptbestellungen oder Einverständniserklärungen – digitale Formulare sind unmittelbar auf die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen gerichtet. Sie stellen damit ebenfalls eine Dienstleistung im elektronischen Geschäftsverkehr im Sinne von § 1 Abs. 3 Nr. 5 BFSG dar. Auch wenn sie als Zwischenschritt zum eigentlichen Behandlungsvertrag erscheinen, unterfallen sie dem BFSG vollumfänglich, da sie auf die Inanspruchnahme einer konkreten Gesundheitsleistung gerichtet sind.

4. Videosprechstunden

Werden telemedizinische Angebote wie Videosprechstunden über eine eigene Plattform oder App der Praxis angeboten, handelt es sich um eine Dienstleistung im elektronischen Geschäftsverkehr (§ 1 Abs. 3 Nr. 5 BFSG). Schon die Registrierung und Anmeldung für die Nutzung begründen eine vorvertragliche Handlung. Nutzt die Praxis hingegen externe Plattformen, liegt die Pflicht bei diesen Anbietern – die Praxis sollte diese Abgrenzung jedoch dokumentieren.

5. Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA)

Die Verschreibung einer DiGA ist für sich genommen nicht BFSG-pflichtig. Werden innerhalb der App jedoch kostenpflichtige Zusatzleistungen angeboten, kommt es zum Abschluss eines Verbrauchervertrags im elektronischen Geschäftsverkehr. In diesem Fall greift § 1 Abs. 3 Nr. 5 BFSG unmittelbar, weshalb die zahlungspflichtigen Inhalte barrierefrei ausgestaltet werden müssen. Praxen selbst sind hier nicht unmittelbar verpflichtet. Verpflichteter nach dem BFSG ist der Hersteller der DiGA. Die App-Inhalte müssen nicht barrierefrei sein.

6. Self-Service-Terminals und interaktive Geräte

Digitale Check-in-Terminals, Tablets zur Patient:innenüberwachung oder Wearables (z.B. Blutzuckersensoren mit Smartphone-Anbindung und Smartwatches mit EKG-Funktion) fallen nicht unter die vom BFSG erfassten Dienstleistungen, sondern unter die Produkte nach § 1 Abs. 2 BFSG. Hier sind primär Hersteller und Händler verpflichtet. Für Praxen ergibt sich daraus jedoch auch eine faktische Verantwortung: Beim Erwerb sollte   sichergestellt werden, dass die eingesetzten Geräte BFSG-konform sind, da andernfalls Nutzungseinschränkungen drohen könnten.

Konkrete Barrierefreiheits-Anforderungen für Praxen

Dokumentationspflichten

Nach § 14 BFSG müssen Anbieter eine Barrierefreiheitserklärung veröffentlichen. Diese beschreibt, inwieweit die Anforderungen eingehalten werden, und ist in barrierefreier Form zugänglich zu machen – am besten gut sichtbar neben Impressum und Datenschutzerklärung auf der Praxis-Website.

Technische Standards

Die technischen Anforderungen des BFSG orientieren sich an zwei zentralen Standards: Zum einen an den international anerkannten Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 2.1) des World Wide Web Consortiums (W3C), die Vorgaben zur barrierefreien Gestaltung von Internetangeboten enthalten. Zum anderen an der harmonisierten europäischen Norm EN 301 549, die verbindliche Anforderungen an die Barrierefreiheit von Informations- und Kommunikationstechnik – einschließlich Webanwendungen, Software, Hardware, mobilen Anwendungen und digitalen Dokumenten – definiert. Aus diesen ergeben sich vier Prinzipien der Barrierefreiheit, die zu erfüllen sind:

  • Wahrnehmbarkeit: Digitale Inhalte müssen über mehr als einen Sinneskanal zugänglich sein. Informationen, die visuell dargestellt werden, sollten beispielsweise auch auditiv verfügbar sein – etwa durch Vorlesefunktionen oder alternative Textbeschreibungen.
  • Bedienbarkeit: Alle Funktionen eines digitalen Dienstes müssen auch von Menschen mit motorischen Einschränkungen nutzbar sein. So sollte etwa die Navigation einer Website vollständig über die Tastatur möglich sein, ohne dass eine Maus erforderlich ist.
  • Verständlichkeit: Die Inhalte sollten sprachlich klar und einfach formuliert sein. Fachbegriffe sind zu erklären, komplexe Sachverhalte möglichst in einfacher Sprache darzustellen.
  • Robustheit: Digitale Angebote müssen mit verschiedenen Browsern und unterstützenden Technologien wie Screenreadern kompatibel sein. Die technische Umsetzung sollte sicherstellen, dass Inhalte maschinenlesbar und zuverlässig auswertbar sind.

Umsetzungs- und Übergangsfristen

Für alle neuen und bestehenden Dienstleistungen gilt das BFSG seit dem 28. Juni 2025. So müssen insbesondere Websites und andere digitale Angebote bereits barrierefrei ausgestaltet sein. Nach § 38 BFSG gelten nur für ausgewählte Produkte und Dienstleistungen Übergangsfristen: Dienstleistungen, die bereits vor dem 28. Juni 2025 unter Einsatz bestimmter Produkte angeboten werden, dürfen bis spätestens zum 27. Juni 2030 in der bisherigen Form weiter erbracht werden. Gleiches gilt für laufende Verträge über Dienstleistungen, wie beispielweise laufende Abos. Weiterhin dürfen Selbstbedienungsterminals, die vor dem 28. Juni 2025 in Betrieb genommen wurden, so lange weiter genutzt werden, wie es ihrer wirtschaftlichen Lebensdauer entspricht, höchstens jedoch fünfzehn Jahre ab dem Zeitpunkt ihrer erstmaligen Nutzung.

Handlungsempfehlungen für Arztpraxen und MVZ

Das BFSG betrifft Arztpraxen unmittelbar. Besonders wichtig ist es, mit den zentralen Schnittstellen zu beginnen:

  1. Praxis-Website anpassen: Alle interaktiven Funktionen wie Terminbuchungen oder Formulare sind Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr und damit BFSG-pflichtig. Die Website ist die erste Priorität.
  2. Barrierefreiheitserklärung erstellen und veröffentlichen: Diese Erklärung ist Pflichtnachweis und muss für Patient*innen leicht zugänglich sein.
  3. Weitere digitale Angebote prüfen: Videosprechstunden und Terminals beispielsweise sind systematisch auf BFSG-Konformität hin zu prüfen.
  4. Prozesse etablieren: Barrierefreiheit muss dauerhaft überwacht und regelmäßig aktualisiert werden – sowohl technisch als auch rechtlich.

Fazit

Das BFSG ist bereits geltendes Recht. Wer jetzt aktiv wird, schützt sich vor Sanktionen und verbessert zugleich die digitale Patientenerfahrung.

Da das Gesetz noch sehr jung ist, bleibt abzuwarten, wie die Marktüberwachungsbehörde mit Sitz in Sachsen-Anhalt und die Gerichte die Vorgaben konkret auslegen und anwenden werden. Wir beobachten die Entwicklung für Sie und halten Sie auf dem Laufenden.

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Autorinnen: Jana Sachse, Charlotte Husemann und Nihan Akpinar

Dies ist ein Beitrag aus unserem Healthcare-Newsletter 4-2025. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.

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