Unsicheres Terrain für den öffentlichen Auftraggeber
Unsicheres Terrain für Auftraggeber
Die Anordnung des öffentlichen Auftraggebers auf der Grundlage der VOB/B (§ 1 Abs. 3 und Abs. 4) hat eine Vergütungsanpassung in Anwendung des § 2 Abs. 5 oder Abs. 6 VOB/B zur Folge. Ist zwischen den Vertragsparteien streitig, ob eine geänderte oder zusätzliche Leistung angeordnet wurde und wenn ja, in welcher Höhe die Nachtragsforderung und eine daraus resultierende Abschlagszahlung berechtigt ist, gibt die VOB/B den Vertragsparteien kein Instrumentarium zur Beschleunigung einer Klärung der streitigen Nachtragsforderung an die Hand.
Anders das seit dem 1. Januar 2018 geltende Bauvertragsrecht des BGB, das den Vertragsparteien über § 650d BGB die Möglichkeit bietet, bei Streitigkeiten über das Recht zur Änderungsanordnung (§ 650b Abs. 2 BGB) oder die aus einer Änderungsanordnung resultierende Nachtragsforderung (§ 650c Abs. 1 BGB) den Erlass einer einstweiligen Verfügung (Leistung- oder Feststellungsverfügung) zu beantragen. Und dies, ohne über den Anspruch dem Grunde und der Höhe nach hinaus die Eilbedürftigkeit glaubhaft machen zu müssen.
In der Literatur und der bisher nur in geringer Zahl vorliegenden Rechtsprechung der Obergerichte ist streitig, ob auch im Rahmen eines VOB-Vertrages eine solche einstweilige Verfügung für Nachtragsforderungen beantragt werden kann. Bisher haben das Kammergericht Berlin (Urteil vom 2. März 2021 – 21 U 1098/20 – und Urteil vom 2. November 2021 – 27 U 120/21) und das OLG München (BeckRS 2024, 6489) diese Frage bejaht, ebenso das Oberlandesgericht Dresden (bisher nicht veröffentlichte Entscheidung) in einem von Forvis Mazars für den öffentlichen Auftraggeber geführten Verfahren.
Mit diesen vereinzelten Entscheidungen dürfte aber noch keine Rechtssicherheit hergestellt sein. Dies umso mehr, als diese Entscheidungen schon rechtsdogmatisch nicht überzeugen. Zwar schließt die VOB/B die Anwendung des § 650d BGB und damit das Recht auf Antrag einer einstweiligen Verfügung wegen einer streitigen Nachtragsforderung nicht ausdrücklich aus. Doch gegen eine Anwendung auf den VOB-Vertrag spricht bereits dessen eindeutiger Wortlaut. Danach soll eine einstweilige Verfügung nur bei Streitigkeiten über das Anordnungsrecht gemäß § 650b BGB oder die Vergütungsanpassung gemäß § 650c BGB Anwendung finden. Das Anordnungsrecht und die daraus folgende Vergütungsanpassung gemäß Bauvertragsrecht des BGB entsprechen in ihrer Regelungssystematik jedoch in keiner Weise derjenigen der VOB/B. Der Gesetzgeber hat sich im Rahmen des Bauvertragsrechts für ein Einigungsmodell entschieden, während die VOB/B ein solches nicht kennt. Die VOB/B sieht vielmehr vor, dass der Auftraggeber grundsätzlich immer Anordnungen für geänderte oder zusätzliche Leistungen treffen kann, während das Bauvertragsrecht ein solches Recht erst nach Scheitern der Einigungsphase von maximal 30 Tagen vorsieht. Ein Streit über das Recht des Auftraggebers, verbindliche Anordnungen zu treffen, kann es insoweit (mit Ausnahmen, z. B. Anordnungen zur Bauzeit) nur beim BGB-Bauvertrag geben. Damit dürfte eine unmittelbare Anwendung des § 650d BGB auf Streitigkeiten über eine anordnungsbedingte Nachtragsforderung zwischen den Parteien eines VOB-Vertrages ausscheiden.
Aber auch eine entsprechende Anwendung dürfte nicht in Betracht kommen, hätte sich der Gesetzgeber doch ansonsten bei der Regelung im Bauvertragsrecht zur einstweiligen Verfügung (§ 650d BGB) nicht auf die darin ausdrücklich benannten Streitigkeiten über das Anordnungsrecht des Auftraggebers und der daraus resultierenden Vergütungsanpassung beschränkt (ebenso BeckOK BauVertrR/Leupertz/Althaus BGB § 650d Rn. 5c), sondern den Leitbildcharakter der Norm des Bauvertragsrechts durch eine offenere Formulierung betont.
Solange Rechtssicherheit nicht hergestellt ist, muss sich der öffentliche Auftraggeber auf eine vermehrte Inanspruchnahme im Wege der einstweiligen Verfügung und damit die Notwendigkeit der entsprechend eiligen Beiziehung anwaltlicher Vertretung einstellen und sich entsprechend organisieren. Eine Verlagerung der Klärung streitiger Nachtragsforderungen auf den Zeitpunkt nach Fertigstellung des Vorhabens kann nicht mehr Mittel der Wahl sein.
Der im Wege einer einstweilen Verfügung auf Zahlung in Anspruch genommene öffentliche Auftraggeber sollte zunächst die dünnste Stelle im Brett prüfen, namentlich die Selbstwiderlegung der Dringlichkeit durch längeres Zuwarten mit der Beantragung der einstweiligen Verfügung. Scheidet dieser Einwand aus, bleiben der Einwand der fehlenden Anwendbarkeit der Vorschrift zur einstweiligen Verfügung des Bauvertragsrechts (§ 650d BGB) auf den VOB/B-Vertrag und hilfsweise die Einwände gegen den mit der einstweiligen Verfügung geltend gemachten Zahlungsanspruch dem Grunde und der Höhe nach.
Dies ist ein Beitrag aus unserem Public Sector Newsletter 3-2024. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.
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