„Ich bin noch da, aber dränge mich niemals auf“

Das Erfolgsgeheimnis, aber zugleich auch die größte Herausforderung für Familienunternehmen besteht darin, die Balance zu halten – zwischen notwendiger Transformation einerseits und dem Bewahren der oft über Jahrhunderte gewachsenen, familiengeprägten DNA andererseits. Beim 1849 gegründeten Technologiekonzern Freudenberg-Gruppe wachen der familiengeprägte Aufsichtsrat und Gesellschafterausschuss über die Arbeit des extern besetzten Vorstands. Mitte 2024 schied Martin Wentzler nach drei Dekaden aus den beiden Familiengremien aus. Wie die Übergabe des Staffelstabs gelang und was andere Unternehmen daraus lernen können, berichtet er zusammen mit dem Nachfolgeexperten Michael Reuter vom Wiesbadener Institut für Nachfolge-Kultur (WINK) e. V.

Herr Wentzler, 30 Jahre lang waren Sie Mitglied des Gesellschafterausschusses der Freudenberg & Co. Kommanditgesellschaft mit rund 300 Gesellschaftern, zudem von 2012 bis 2014 Mitglied des Aufsichtsrats der Freudenberg SE. 2014 bis 2024 waren Sie zudem jeweils Vorsitzender beider Gremien – und damit wichtigster Sparringspartner für den Vorstand. Mitte 2024 sind Sie aus Altergründen abgetreten. Wie haben Sie diesen Schritt, rückwirkend betrachtet, erlebt?

Wentzler: Ich habe den Rückzug als Teil eines notwendigen und geordneten Wechsels wahrgenommen. Ohne Zweifel ist ein solcher Schritt nach mehr als drei Dekaden Gremienzugehörigkeit eine Zäsur. Ich war mit meinem Großvater derjenige mit der längsten Amtszeit. Durch den Wegfall der Funktionen verliert man den engen Kontakt zu vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Familienmitgliedern, mit denen man über so lange Zeit sehr eng zusammengearbeitet hat. Das ist der Teil, den ich bedaure, der mir fehlt. Aber dass dieser Tag kommen würde, war mir seit Langem bekannt. Ich konnte mich entsprechend einstellen. Wir haben eine Altersgrenze im Gremium von 73 Jahren. Und es gibt eine Amtszeitbegrenzung für den Vorsitzenden oder die Vorsitzende von 12 Jahren. Ich halte diese Regelungen gerade bei Familienunternehmen für sehr sinnvoll. Sie stellen sicher, dass es zu keinem Patriarchentum kommt.

Herr Reuter, Sie als Personalberater und Vorstand von WINK kennen den familiengeführten deutschen Mittelstand sehr gut. Was macht eine gute Nachfolge-Kultur im Vorstand, aber auch im Aufsichtsrat aus?

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Reuter: Ich sehe da keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen Aufsichtsrat und Vorstand. Entscheidend ist, dass das Thema Nachfolge von der Unternehmerfamilie frühzeitig, ganzheitlich und ergebnisoffen betrachtet und geplant wird. Manche unterschätzen die Komplexität und damit den zeitlichen Aufwand. Realistisch ist eine Dauer zwischen drei und fünf Jahren für eine gute geplante und umgesetzte Unternehmensnachfolge. Im Einzelfall kann das auch deutlich länger dauern. Im ersten Schritt sollten alle Beteiligten aus der Unternehmerfamilie ihre jeweiligen persönlichen Vorstellungen zur Nachfolge reflektieren, anschließend gemeinsam und konstruktiv diskutieren sowie den Entscheidungsprozess definieren, mit klaren Rollen und Zuständigkeiten in der Unternehmerfamilie, im Gesellschafterkreis, im Aufsichtsrat, aber auch im Vorstand. Für die Besetzung von Positionen im Aufsichtsrat beziehungsweise im Vorstand sind klare Auswahlkriterien wichtig, die sowohl für familieninterne als auch für externe Kandidatinnen und Kandidaten gelten.

Welche Kriterien sind das?

Reuter: Nachfolgerinnen und Nachfolger sollten ausgewählt werden anhand der Kompetenzen, die für die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens erforderlich sind. Erstklassige Fachkenntnisse in Zukunftsfeldern allein genügen nicht – auch emotional-zwischenmenschliche Fähigkeiten sind gefragt, um einzelne Personen, aber auch ganze Belegschaften in Weltkonzernen wie der Freudenberg-Gruppe von sich und dem gemeinsamen Ziel zu überzeugen.

Wie genau läuft die idealtypische Entscheidungsfindung? Viele Unternehmen wie die Freudenberg-Gruppe bestehen längst aus einer Vielzahl von Familienstämmen und -zweigen.

Reuter: Die neue Vorstandsvorsitzende oder der neue Aufsichtsratschef sollten nicht im stillen Kämmerlein von irgendeiner Einzelperson ausgewählt werden. Gerade wenn es so viele vom Nachfolgeprozess betroffene Stakeholder gibt, braucht es eine offene, ehrliche und wertschätzende Diskussion auf Basis eines gemeinsamen Wertekodex und einer gemeinsamen Zielrichtung für das Unternehmen.

Wenn es eine Kultur gibt, gibt es auch eine Unkultur. Was muss eine Firma bei der Nachfolge im Vorstand oder Aufsichtsrat falsch machen, um garantiert zu scheitern?

Reuter: Einfach das genaue Gegenteil dessen, was ich gerade geschildert habe. Dann spielt man mit dem Feuer: Der Familienfrieden sowie der Zusammenhalt sind gefährdet und damit langfristig auch das Überleben des Unternehmens.

Herr Wentzler, Ihr Unternehmen gehört heute rund 370 Nachkommen des Firmengründers Carl Johann Freudenberg. Sie könnten rund sieben Reisebusse allein mit Ihrer weit verzweigten Familie besetzen. Wie bekommen Sie alle Einzelinteressen da noch vereint?

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Wentzler: Auf keinen Fall mit einer strengen Ansage vom Fahrer (lacht). Im Ernst: Freudenberg ist sicherlich ein Sonderfall, weil wir eine sehr große Familie sind. Daher haben wir frühzeitig Strukturen geschaffen, die denen von börsennotierten Kapitalgesellschaften sehr ähneln. Bei uns herrscht schon seit Langem und glücklicherweise kein Stammesprinzip mehr. Die Gesellschafter übertragen ihre wesentlichen operativen Mitbestimmungsrechte auf den Gesellschafterausschuss. Dort sind die Interessen der Familie gebündelt. Aktuell sitzen im Gesellschafterausschuss sieben Vertreterinnen und Vertreter der Familie, an ihrer Seite sechs Externe. Diese Sieben kennen die Stimmung, die Wünsche und Vorstellungen der Familie sehr genau. Zudem basieren alle ihre Entscheidungen auf unserem genau definierten Wertegerüst. Die Unternehmenswerte gelten für uns als Familie, aber auch für das Unternehmen und all seine Beschäftigten. Nach diesen Regeln führen wir und lenken die Gruppe. Darin ist beispielsweise festgehalten, dass wir stets eine Eigenkapitalquote von mindestens 40 Prozent aufweisen. Zudem stellen wir keine Produkte her, die geeignet sind, Menschen zu schaden. Und wir wollen immer ein Mischkonzern sein. Die Umsätze und Ergebnisse sollen dabei jeweils zu einem Drittel aus Europa, aus Asien sowie aus Nord- und Südamerika stammen. Ein Punkt liegt mir am Herzen: Auch wenn wir so aufgestellt sind wie eine klassische Kapitalgesellschaft – wir sind keine. Die Familie bleibt entscheidend. Die Kunst gerade für den Vorsitzenden des Aufsichtsrats und des Gesellschafterausschusses besteht darin, die Familie zu integrieren. Sonst wird die Distanz irgendwann zu groß und aus Familienmitgliedern werden anonyme Finanzinvestoren. So weit wollen wir es niemals kommen lassen.

Wir erleben derzeit einen rasanten technologischen Wandel. Damit Unternehmen fit für die Zukunft werden, müssen Vorstandsmitglieder, aber auch deren Partnerinnen und Partner im Aufsichtsrat neue Fähigkeiten und vor allem digitales Know-how mitbringen. Wie stellen Sie sicher, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Familie hier mithalten können?

Wentzler: Sie sprechen da einen wirklich wichtigen Punkt an. Bei der Wahl der sieben Mitglieder der Familie für den Gesellschafterausschuss machen wir keine Vorgaben im Sinne von: Gesucht wird ein Familienmitglied mit einem Abschluss als Master of Business Administration und tiefen Kenntnissen in Sachen künstlicher Intelligenz. Gleichwohl brauchen wir im Gesellschafterausschuss zunehmend solches Fachwissen. Daher können wir bei der Besetzung der übrigen sechs Plätze im Gremium entsprechend selektieren. Klar ist aber auch: Sie können selbst in einem Gremium mit 13 Personen nicht alle relevanten Themen mit je einer Person besetzen – von Digitalisierung über KI bis Nachhaltigkeit. Dann wären sie locker bei 20 Personen. Daher suchen wir vor allem breiter aufgestellte Expertinnen und Experten mit vielfältiger Industrieerfahrung und bestimmten Vertiefungsgebieten. Und was die Familienmitglieder angeht: Wir benötigen vor allem Menschen, die Rückgrat haben, unabhängig sind, Mut besitzen. Besonders in disruptiven Zeiten müssen die Familienmitglieder zusammenstehen und den richtigen Weg finden, wenn es mal nicht gut läuft.

Herr Reuter, Kontinuität ist das Erfolgsrezept deutscher Familienunternehmen. Wie aber lässt sich Kontinuität mit dem notwendigen Wandel vereinen? Anders gefragt: Wo beginnt die Grenze zur Sturheit?

Reuter: Entscheidend ist die Unternehmenskultur. Bin ich bereit, in Innovationen zu investieren, neue Geschäftsmodelle auszuprobieren? Gestehe ich Menschen Fehler zu? All das spielt eine wesentliche Rolle. Familienunternehmen sollten sich öffnen für die Ideen und die Einsatzfreude jüngerer Generationen. Diese sind oftmals bestens ausgebildet und bringen häufig auch eine internationale Perspektive ein, von der etablierte Familienunternehmen hierzulande nur profitieren können. Auch Offenheit gegenüber neuen Partnerschaften und Kooperationen mit anderen Unternehmen sowie mit Universitäten und Forschungseinrichtungen ist essenziell. Allein der stetige Wandel sichert das dauerhafte Überleben am Markt, wie dies bei Freudenberg erfolgreich über Generationen praktiziert wird.

Blicken wir nochmals genauer auf die Beziehung zwischen Aufsichtsrat und Vorstand in Familienunternehmen. Besteht nicht die Gefahr, dass der familiendominierte Aufsichtsrat einem externen Vorstand zu sehr hineinregiert? Schließlich geht es im Kern um das Kapital der Familie, um das Erbe von Vater, Opa, Urgroßvater oder Ururgroßvater?

Reuter: Die Gefahr besteht definitiv. Hier hilft eine gute Governance.

Wentzler: Wir haben klare Regeln und Zuständigkeiten für die jeweiligen Zuständigkeiten von Vorstand, Aufsichtsrat und Gesellschafterausschuss. Investitionen oberhalb bestimmter Schwellenwerte muss etwa der Aufsichtsrat genehmigen. Auch strategische Entscheidungen darf der Vorstand nicht allein beschließen. Ins tägliche Geschäft mischen sich Aufsichtsrat und Gesellschafterausschuss dagegen nicht ein.

Wie sieht Ihr Umgang mit Ihrem Nachfolger Mathias Thielen aus, Herr Wentzler? Wie schaffen Sie den Spagat, ihm ein Ratgeber zu bleiben, ohne sich permanent einzumischen?

Wentzler: Wir haben da bei Freudenberg eine gute Tradition. Ich habe ihn über anderthalb Jahre lang intensiv an die Aufgaben an der Spitze von Aufsichtsrat und Gesellschafterausschuss herangeführt. Das war ein sehr strukturierter Onboarding-Prozess. Am Tag X konnte ich dann beruhigt an die Seite treten. Ich bin noch da, wenn er einmal eine Frage hat. Aber ich dränge mich niemals auf. Vor allem nach außen hin nehme ich mich komplett zurück. Dieses Interview bleibt eine seltene Ausnahme (lacht).

Das Unternehmen

Lösungen der Freudenberg-Gruppe sorgen dafür, dass die Luft in Räumen reiner wird, dass Autos fahren können und Wunden schneller heilen. Das globale Technologieunternehmen produziert Dichtungen, schwingungstechnische Komponenten, technische Textilien, Filter, Reinigungstechnologien, Spezialchemie und medizintechnische Produkte. 2023 erzielte die Freudenberg-Gruppe einen Umsatz von 11,9 Milliarden Euro. Ende 2023 beschäftigte das Unternehmen mehr als 52.000 Menschen. Der Aufsichtsrat der Freudenberg SE und der Gesellschafterausschuss der Freudenberg & Co. KG sind personell identisch. Die beiden Gremien bestehen jeweils aus maximal 13 Mitgliedern, von denen die Mehrzahl aus der Freudenberg-Familie stammen muss.

WINK

Das 2020 gegründete gemeinnützige Wiesbadener Institut für Nachfolge-Kultur (WINK) e. V. versteht sich als erste Anlaufstelle, wenn es um das Thema Unternehmensnachfolge in Familienunternehmen geht: www.wink-ev.de

Zu den Personen

Martin Wentzler gehörte bis Mitte 2024 mehr als 30 Jahre lang dem Gesellschafterausschuss der Freudenberg & Co. Kommanditgesellschaft an, zudem zwischen 2012 und 2024 dem Aufsichtsrat der Freudenberg SE. Die letzten zehn Jahre davon hatte er den Vorsitz in beiden Organen inne. Der Rechtsanwalt istein Ururenkel des Firmengründers Carl Johann Freudenberg.

Michael Reuter ist Personalberater, Gesellschafter eines Familienunternehmens in vierter Generation und Vorstand bei WINK.

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