Herr Kremer, Studien zeigen, dass nur 5 % der Vorständ*innen in Deutschland ihre Aufsichtsräte für KI-kompetent halten. Teilen Sie diese drastische Einschätzung?
Ja, beim Thema Künstliche Intelligenz besteht noch enormer Nachholbedarf. Kürzlich habe ich einen Vortrag über den Einsatz von KI in der Aufsichtsratsarbeit vorbereitet. Neben Studien habe ich die Berichte zur Führung börsennotierter Unternehmen und die Qualifikationsprofile für Aufsichtsräte als Quellen genutzt. Hinzu kam ein Erfahrungsaustausch in meinem Netzwerk. Dabei zeigte sich: Viele Gremien verzichten bislang komplett auf die Möglichkeiten der Technologie – schlicht, weil ihren Mitgliedern die nötigen Kenntnisse fehlen.
Viele Unternehmen setzen KI längst in der Produktion, im Kundenservice oder bei Vertragsanalysen ein. Müsste der Aufsichtsrat hier nicht Schritt halten?
Auf jeden Fall. Wenn der Vorstand bereits KI einsetzt, aber der Aufsichtsrat nicht folgen kann, verliert das Gremium seine Rolle als Sparringspartner auf Augenhöhe. Es entsteht eine gefährliche Schieflage.
Was bedeutet das?
Es besteht die Gefahr, dass die Mitglieder ihre Kontrollfunktion nicht mehr angemessen erfüllen. Auch die Innovationsfähigkeit leidet: Wer nicht versteht, wie KI-Geschäftsmodelle verändert, kann die Arbeit des Vorstands nicht kritisch-konstruktiv begleiten. Aufsichtsrät*innen sollen auch strategische Impulse geben – wenn sie dazu nicht in der Lage sind, schadet das dem Unternehmen.
Es gibt eine breite öffentliche Debatte über Künstliche Intelligenz. Warum verläuft die Lernkurve in den Aufsichtsräten trotzdem so flach?
Ich sehe drei Gründe: Erstens höre ich in vertraulichen Gesprächen noch immer, KI sei ein Tool für die IT-Abteilung und betreffe den Aufsichtsrat nicht direkt. Diese Einschätzung ist falsch, aber verbreitet. Zweitens: Aufsichtsratsmitglieder mischen sich traditionell nicht direkt ins operative Geschäft ein, das ist nicht ihre Aufgabe. Deshalb warten viele darauf, dass der Vorstand das Thema KI an sie heranträgt. Drittens geht es bei Künstlicher Intelligenz nicht nur um Technik, sondern auch um Aspekte wie Datenschutz, Datensicherheit, Diskriminierungsfreiheit oder regulatorische Standards. Diese Komplexität schreckt ab.
Wie tiefgehend muss die Kenntnis der Technologie im Aufsichtsrat sein?
Alle Aufsichtsratsmitglieder sollten ein grundlegendes Verständnis haben – also wissen, was KI leisten kann, wie sie Geschäftsmodelle beeinflusst und welche Chancen und Risiken bestehen. In größeren Gremien sollten zudem ein bis zwei Mitglieder über vertiefte Expertise verfügen. Der Schwerpunkt hängt vom Geschäftsmodell ab: Ein Software-Konzern oder eine Großbank brauchen anderes Spezialwissen als ein Logistikdienstleister. Über Aufsichtsratsausschüsse für Technologie, Innovation, IT oder Digitalisierung lässt sich vorhandene Kompetenz gezielt einbinden, ohne das gesamte Gremium zu überfrachten – ein Weg, den Unternehmen wie Allianz, Deutsche Börse oder SAP bereits gehen.
Wie lassen sich KI-Kenntnisse im Aufsichtsrat gezielt aufbauen?
Da sich Mitglieder nicht beliebig austauschen lassen, besteht ein sinnvoller erster Ansatz in Weiterbildung. Jede*r Angehörige des Gremiums sollte eigene Erfahrungen mit KI sammeln, etwa mit frei zugänglichen Versionen von ChatGPT oder ähnlichen Tools. Das klingt banal, macht aber einen großen Unterschied. Ergänzend empfehle ich Workshops mit dem Vorstand. Gerade wenn KI eng mit dem Geschäftsmodell verknüpft ist, ist der offene Austausch über Ziele, Chancen und Risiken entscheidend. Zusätzlich ist es sinnvoll, regelmäßig externe Expert*innen einzuladen – Wissenschaftler*innen oder Praktiker*innen aus Innovationszentren in Deutschland, aber auch aus dem Silicon Valley. Solche Außenperspektiven helfen, den Blick zu schärfen und nicht nur im eigenen Unternehmenskontext zu verharren. Mit dieser Kombination verfügen Aufsichtsratsmitglieder über eine solide Basis: Sie sammeln persönliche Erfahrungen, kennen die Praxis im Unternehmen, und sie erhalten Impulse von außen.
Genügt das?
Es ist ein Anfang. Darüber hinaus braucht es eine gezielte Nachfolgeplanung, um bei anstehenden Nachbesetzungen systematisch KI-Kompetenz in die Gremien zu holen.
Wie gelingt das?
Formell ist es einfach: Man schreibt KI-Kenntnisse ins Anforderungsprofil – je genauer man hier formuliert, umso eher findet man die zum Unternehmen passenden Menschen. Aber natürlich kann die Suche dennoch eine Weile dauern; schnelle Nachbesetzungen mit klarer technischer Kompetenz sind selten. Deshalb gilt: Wer systematisch KI-Know-how in den Aufsichtsrat holen will, muss langfristig planen.
Welchen Stellenwert wird Künstliche Intelligenz künftig im Kompetenzprofil eines modernen Aufsichtsrats haben?
In drei bis vier Jahren werden KI-Kenntnisse selbstverständlich sein. Wir werden sie als Teil eines größeren Kompetenzclusters aus Technik, Digitalisierung und Innovation betrachten. Aufsichtsräte werden KI-Tools auch für ihre eigene Arbeit nutzen – etwa um Analysen zu beschleunigen oder Entscheidungsprozesse vorzubereiten.
Wird die Technologie mittelfristig den Aufsichtsrat ersetzen?
Nein. Es werden weiterhin Menschen gefragt sein, die abwägen, diskutieren und Prioritäten setzen –unterstützt durch Künstliche Intelligenz. Genau deshalb ist es so wichtig, dass Aufsichtsrät*innen ihre Rolle und ihre Fähigkeiten jetzt anpassen. Ersetzt wird allenfalls, wer die Technologie weiterhin ignoriert.
Zur Person
Dr. Thomas Kremer ist Lehrbeauftragter für Gesellschaftsrecht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Kremer ist zudem Aufsichtsratsvorsitzender des Technologie-Dienstleisters Solutions 30 SE, zuvor war er Vorstand für Datenschutz, Recht und Compliance bei der Deutschen Telekom.