Oktober 2025 – Risiken zu managen, gehört seit jeher zur Pflichtübung für jedes Management. Doch in der Ära der Polykrise scheint manchen Unternehmen der eigene Kompass abhandengekommen zu sein. Es ist Zeit, den veränderten Wahrheiten ins Auge zu sehen und das eigene Geschäft neu aufzustellen, fordern die Risikoexperten Ansgar Baums und Thomas Ramge. Im Interview erklären die Verfasser des jüngst erschienenen Sachbuchs „Die Stunde der Nashörner“, welchen fundamentalen Unterschied die Dickhäuter zu „schwarzen Schwänen“ haben, wie Firmen geopolitische Muskeln aufbauen und warum die digitale Teilung der IT-Welt in eine US-amerikanische und eine chinesische Hemisphäre nur noch eine Frage der Zeit ist.
Herr Ramge, Herr Baums, die Welt scheint in komplettem Aufruhr. Doch was hat Geopolitik eigentlich mit einem mittelständischen Unternehmen aus Westfalen, Brandenburg oder Schwaben zu tun?
Ramge: Kurz gesagt: sehr viel. Die Zeiten der Hidden Champions, die ungestört aus der deutschen Beschaulichkeit heraus mit erstklassigen Produkten die Weltmärkte erobern konnten, sind vorbei. Bereits seit anderthalb Jahrzehnten wächst der weltweite Export langsamer als das globale Bruttosozialprodukt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sich deutsche Unternehmen viel stärker vor Ort in aller Welt engagieren und zeigen müssen, um weiter Erfolg zu haben. Und genau dort geraten sie jetzt zunehmend in die geopolitischen Konflikte und Konfliktgräben, die sich auftun.
Sie sprechen damit die Megakrisen der jüngeren Vergangenheit an – von der Coronapandemie über den Ukraine-Krieg bis hin zur Abkehr der USA von Westeuropa und speziell Deutschland?
Baums: All das beeinflusst das bisherige unipolare Geschäftsmodell deutscher Konzerne und vor allem des Mittelstands massiv. Wer die Dinge beim Namen nennt, muss sich eingestehen: So wie bisher kann es nicht weitergehen. Schon seit Jahren stockt der deutsche Exportmotor gewaltig – nur braucht es immer Zeit und Leidensdruck, bis aus der Erkenntnis Aktion erwächst. Und vor allem ist die Einsicht wichtig, dass es kein Zurück gibt zu den guten alten Zeiten, in denen deutsche Exporteure ungestört und ohne Einfluss der Politik ihre Geschäfte auf fremden Märkten tätigen konnten. Wirtschaft und Geopolitik – das lässt sich heute und vor allem in Zukunft nicht mehr voneinander trennen. Jedes Unternehmen, das seine Unternehmensprozesse über SAP steuert, sein Marketing über US-Cloud-Anbieter betreibt und seine Daten dort verwalten lässt, sollte besonders die politischen Entwicklungen an den digitalen Schnittstellen zwischen den Vereinigten Staaten, China und Europa aufmerksam im Auge behalten.
Aber viele der jüngsten Krisen kamen doch über Nacht. Wer hätte „schwarze Schwäne“ wie die Pandemie oder den Ukraine-Krieg vorhersehen sollen?
Ramge: Das bewerten wir komplett anders. Und sprechen daher im Titel unseres Buches statt von den „schwarzen Schwänen“ von den „grauen Nashörnern“. Die US-amerikanische Autorin und Beraterin Michele Wucker hat diesen Begriff geprägt. Graue Nashörner sind jene Risiken, die offenkundig, wahrscheinlich und in der Regel ziemlich gut berechenbar sind – und dennoch gefährlich, weil wir sie trotz ihrer Offensichtlichkeit und Gefährlichkeit ignorieren und verdrängen. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Klimawandel. Wer sich vorab mit Virolog*innen unterhalten hatte, durfte auch von der Pandemie nicht komplett überrascht gewesen sein. Gleiches gilt für Putins seit vielen Jahren öffentlich geäußerte Angriffspläne auf die Ukraine oder das bereits seit Jahren verschriftlichte Übernahmeprogramm der MAGA-Bewegung in den USA, dessen Umsetzung wir dieser Tage leider erleben.
Und irgendwann bricht das Nashorn los und tritt bei allen Unvorbereiteten alles platt?
Baums: So in etwa. Das Problem mit den Nashörnern im Unternehmenskontext besteht zum einen in verzerrenden Denkmustern. Zum anderen in Strukturen in den Unternehmen und Organisationen, die überholt sind und der heutigen Risikolage nicht mehr gerecht werden.
Wie werden denn Unternehmen resilient gegen die geopolitischen Stürme?
Baums: Aus unternehmerischer Sicht sind geopolitische Verwerfungen nüchtern betrachtet nichts anderes als Risiken. Diese sollten Firmen nicht aus der Bahn werfen. Risiken einzuschätzen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, gehört nicht nur zum Kerngeschäft von Versicherungen. Es geht nicht darum, die Risiken auf null zu fahren. Um Risiken managen zu können, müssen sie zunächst einmal transparent sein. Genau daran hakt es im Moment. Wenn wir ganz ehrlich sind, haben wir in den Zeiten der Hyperglobalisierung Wertschöpfungsketten geschaffen, die keiner mehr versteht und deswegen auch nicht die Risiken managen kann. Das wurde während der Covid-Pandemie mehr als deutlich. Softwareseitig hat sich im Bereich Supply-Chain-Management in den vergangenen Dekaden sehr wenig getan. Einige Unternehmen überblicken im besten Fall ihre eigene Supply-Chain bis Ebene zwei, danach wird es zappenduster. Das ist ein „management failure“ historischen Ausmaßes. Und den gilt es jetzt zu beheben.
Und wie geht das?
Ramge: Erstens ist es wichtig, sich der Probleme, der eigenen offenen Flanken und der daraus ableitbaren Risiken bewusst zu werden. Zweitens kommt es darauf an, eine angemessene Strategie zur Risikoreduktion zu entwickeln. Sehr große Unternehmen haben dafür eigene Stabsstellen, die in Szenarien denken und Vorstand sowie Aufsichtsrat beraten. Mittelständische Firmen können das in dieser Form zwar nicht leisten – hier muss die Risikokontrolle durch den Vorstand oder die Geschäftsführung erfolgen. Nochmals: Es geht nicht darum, jedes erdenkliche Risiko zu minimieren oder gar zu eliminieren. Unternehmen sollten aber ihre zentralen Risiken kennen, bewerten und managen lernen. So entsteht eine geopolitische Resilienz – Firmen können das trainieren wie Sportler*innen ihre Muskelkraft. Letztlich bleibt die Zukunft immer unberechenbar. Die Entscheidung, wie viel mir als Unternehmen mehr Resilienz wert ist, muss jede Firma für sich selbst beantworten. Und dafür braucht es Rückhalt von ganz oben: Denn die Vorteile eines ausgefeilten Risikomanagements sind wesentlich schwerer zu quantifizieren als dessen Kosten. In unternehmensinternen Diskussionen gewinnen bekanntlich oft jene, die mit konkreten Zahlen argumentieren.
Welche veränderten Risiken müssen Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglieder denn konkret beachten?
Baums: Neu ist vor allem das, was wir im Buch mit „Geotech Statecraft“ umschreiben – die weltweit wachsende Regulierung mit dem Ziel, Technologie-Wertschöpfungsketten für geopolitische Zwecke auszunutzen. Um ihre geostrategischen Ziele zu erreichen, entwickeln vor allem Washington und Peking immer neue Policy-Instrumente. Trumps Zollhämmer sind da das plakativste Beispiel. Hinzu kommen zwei weitere wichtige Entwicklungen, die immer schärfere Züge annehmen: Erstens kreuzen sich digitale Wertschöpfungsketten mit den neuralgischen Konfliktherden, insbesondere in Südostasien. Taiwan ist Herz, Lunge und Niere der weltweiten IT-Industrie in einem. Eskalationen der geopolitischen Lage, bewusst herbeigeführt oder unbeabsichtigt ausgelöst, können einen dramatischen Einfluss auf Lieferketten haben. Zweitens erleben wir gerade den Start der digitalen Teilung der Welt. Geotech Statecraft führt mittelfristig zu einer Teilung der digitalen Welt in zwei hemisphärische IT-Stacks. Die IT passt sich der Geopolitik an und wird ebenfalls bipolar: US-amerikanisch und chinesisch. Damit ändern sich Technologiemärkte fundamental. Beispiel Autos: Der neue Audi, der gerade in China vorgestellt wurde, hat technisch nicht mehr viel mit den Audis in anderen Märkten gemein – und zwar wegen spezifischer Technologie-Regulierung in China. Umgekehrt dürfen „connected cars“ aus China in den USA nicht mehr importiert werden. Heißt in der Konsequenz: Entweder habe ich als Autohersteller doppelte Entwicklungskosten oder einen wesentlich kleineren „total addressable market“.
Und wo ist in dieser Welt noch Platz für deutsche Mittelständler?
Baums: Keine Bange, es ist noch genügend Platz da. Unternehmen müssen jedoch die wichtige und zugleich so schwierige Entscheidung beantworten, ob sie in Zukunft „One-Stack-“ oder „Two-Stack-Unternehmen“ sein wollen. Wer – wofür es viele gute Gründe gibt – etwa neben Nordamerika in Zukunft auch in China aktiv sein oder es bleiben möchte, muss sich mit chinesischer IT auseinandersetzen.
Bis hierhin haben wir nur über Risiken gesprochen. Welche Chancen ergeben sich denn für Unternehmen aus Deutschland durch die veränderte geopolitische Situation?
Ramge: Das ist der aus meiner Sicht wichtigste Aspekt, der in der Debatte über die Folgen von Trump, Putin oder Xi Jinping leider viel zu kurz kommt. Das deutsche und das europäische Topmanagement muss raus aus der defensiven Haltung. Selbstverständlich müssen die Risiken bekannt sein und man muss sie im Griff haben. Doch wir sollten uns auch überlegen: Welche neuen Märkte öffnen sich – was ist mit Afrika oder dem Mittleren Osten? Auf welchen Feldern sind wir stark? Und vor allem stärker und besser als die Konkurrenz aus den USA und besonders China? Im Hochtechnologiebereich hat Deutschland weiterhin viele Trümpfe. Wir müssen sie nur selbstbewusster ausspielen, unsere bürokratischen Lasten reduzieren und vor allem das Tempo beim Transfer des Wissens von den Hochschulen in die Unternehmen erhöhen. Es ist nicht so, als hätten andere Länder keine Probleme: Wirtschaftlich geht es den USA nicht gut, wenn wir hinter die Fassade der MAGA-Rhetorik blicken. Und auch in China stottert der Wachstumsmotor gewaltig – die jüngste Immobilienblase ist dafür der beste Beleg. Wir brauchen hierzulande ein neues Mindset: Der grassierende Pessimismus ist Zeitverschwendung. Wir werden nur mit Zuversicht wieder in die Offensive kommen.
Zu den Personen
Ansgar Baums ist Senior Fellow des Stimson Center in Washington und Senior Advisor beim Geopolitik-Beratungshaus Sinolytics in Berlin. Er berät Unternehmen zum geopolitischen Risikomanagement und war zuvor unter anderem für SAP, Zoom und HP tätig.
Thomas Ramge ist mehrfach ausgezeichneter „Spiegel“-Bestseller-Autor und hat bis heute mehr als 20 Sachbücher veröffentlicht. Zusammen mit Ansgar Baums hat er im September 2025 sein neuestes Buch auf den Markt gebracht: „Die Stunde der Nashörner. Wie Unternehmen die neuen geopolitischen Risiken managen“ (Murmann). Ramge ist Associated Researcher am Einstein Center Digital Future in Berlin sowie Gastgeber des Podcasts „SPRIND“ der Bundesagentur für Sprunginnovationen.
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