Wenn die Vorstandsaffäre zur Compliance-Frage wird
Die aktuellen Fälle
Einen großen Teil unserer Zeit verbringen wir auf der Arbeit. Damit ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Menschen sich dort auch verlieben, Partner*innen fürs Leben finden oder auch nur eine Affäre haben. All das ist menschlich. Doch wenn Vorstandsmitglieder involviert sind, sieht die Sache schnell anders aus. Das belegten jüngst zwei Beispiele aus Nordamerika und der Schweiz: Bei dem als „Coldplay-Affäre“ bekannt gewordenen Fall am 16. Juli 2025 in Foxborough, südwestlich von Boston gelegen, entlarvte die „Kiss Cam“ während des Konzerts der britischen Popband Coldplay eine Affäre: Andy Byron, CEO des Tech-Unternehmens Astronomer, und seine HR-Chefin Kristin Cabot wurden bei einer innigen Umarmung gefilmt. Beide sind verheiratet – aber nicht miteinander. Als sie merkten, dass sie auf der Leinwand zu sehen waren, versuchten sie, sich zu verstecken. Coldplay-Sänger Chris Martin kommentierte live: „Entweder sie haben eine Affäre oder sie sind sehr schüchtern.“ Das Video ging viral, erzielte mehr als 120 Millionen Views und spöttische „Memes“ überschwemmten das Netz. Der Druck auf das börsennotierte Unternehmen wuchs immens: Nach wenigen Tagen trat Byron als CEO zurück, auch Cabot verlor ihren Job.
Bei der zweiten, jüngst bekannt gewordenen Affäre auf C-Level handelt es sich um den mittlerweile entlassenen Nestlé-Vorstandschef Laurent Freixe. Dem verheirateten Mann wurde das Verhältnis mit einer ihm direkt unterstellten Mitarbeiterin zum Verhängnis, die zuvor binnen kurzer Zeit zur Vizepräsidentin für Marketing und Kommunikation aufgestiegen war. Zutage gefördert hatte die Affäre laut Presseberichten die Hauptgeliebte von Freixe, die ebenfalls eine Topposition bei Nestlé innehatte.
Wachsender Druck auf Unternehmen
Affären und Liebschaften am Arbeitsplatz gab es schon immer. Große Aufmerksamkeit hierzulande erlangten einst etwa die Beziehung des früheren Mercedes-Chefs Jürgen Schrempp zu seiner Sekretärin oder die von Ex-Deutsche-Bank-Chef Hilmar Kopper zur Kunstbeauftragten seines Hauses und Witwe von Willy Brandt, Brigitte Seebacher. Beide Beziehungen führten zu Ehen.
Die aktuell diskutierten Fälle sind anders geartet. „Es ist auffällig, dass zwei so spektakuläre und prominente Fälle in kürzester Zeit hintereinander passiert sind. Und deshalb ist dieses Thema jetzt auch so in die öffentliche Wahrnehmung gerückt“, sagt Andreas Eckhardt. Der promovierte Rechtsanwalt ist Partner bei Forvis Mazars. Doch es wäre verkehrt, in solchen Affären nur ein Thema für die Boulevardmedien zu sehen. Eckhardt: „Wenn es wie im Fall Nestlé klare Interessenkonflikte gibt und der Eindruck entsteht, die Person an der Spitze führt nicht mehr objektiv, besteht für ein Unternehmen und dessen Aufsichtsrat klarer Handlungsbedarf.“
Hinzu kommt – wie die „Coldplay-Affäre“ zeigt – der massiv gestiegene öffentliche Druck durch den Siegeszug der sozialen Medien. Das vermeintlich Private wird in Sekundenbruchteilen öffentlich. Rechtsexperte Eckhardt: „Die Sensibilität für das Thema ist eine andere geworden. Und die Geschwindigkeit, in der sich etwa ein Video weltweit verbreitet, ist atemberaubend. Auch Sprachbarrieren stellen kein Hindernis mehr dar, weil Botschaften durch KI-Apps oder Untertitel für jeden weltweit übersetzt werden.“ Damit erreichen solche Videos beispielsweise Menschen in Kulturkreisen, in denen etwa eine außereheliche Affäre nicht als kleiner Fehltritt abgetan wird. Besonders für einen global aufgestellten Nahrungsmittelkonzern wie Nestlé ist das von großer Bedeutung.
Relevanz für Aufsichtsräte und Vorstände
Das Tempo, mit dem „Shitstorms“ auf ein Unternehmen zurollen, stellt besonders die Mitglieder von Vorständen und Aufsichtsräten, die über die Fälle und mögliche Sanktionen bis hin zur Demission entscheiden müssen, vor Probleme. Vor allem wenn sie wie in den erwähnten aktuellen Fällen selbst im Fokus stehen. Zwar gilt hierzulande der Grundsatz: Liebesfragen sind Privatsache. Doch sie werden zum Thema fürs Board, wenn darunter die Unternehmenskultur, die Führungs- und Entscheidungsfähigkeit der Betreffenden oder die Außendarstellung und der Aktienkurs der Gesellschaft leiden könnten.
Um das zu beantworten und zu prüfen, benötigen Aufsichtsräte Zeit – die ihnen ob des hohen sozialen Drucks häufig kaum mehr bleibt. Was tun, um der Sache dennoch gerecht zu werden und vor allem niemanden vorzuverurteilen? Eckhardt nennt den Einzelfall eine „schwierige Abwägung“: „Wie hoch ist die Öffentlichkeitswirksamkeit? Wie hoch ist die Schwere des Vorwurfs? Wie groß sind die Risiken für die Reputation des Unternehmens? Welche Auswirkungen kann es auf den Aktienkurs haben?“ Alle diese Aspekte in kurzer Zeit abzuwägen, wird für ein Aufsichtsgremium immer herausfordernder. Viele Unternehmen behelfen sich im Fall des Falles mit einer einstweiligen Suspendierung – das gibt die notwendige Zeit, einen Sachverhalt aufzuklären, ohne die Betroffenen mit allen persönlichen Konsequenzen gleich ganz fallen zu lassen.
Wie sich Aufsichtsräte und Vorstände wappnen sollten
„Besonnen und gut überlegt“ sollten die Entscheidungen der Gremien ausfallen, wenn es nach Andreas Eckhardt geht. Schließlich gehe es auch um die berufliche wie private Zukunft einzelner Menschen. Die Basis korrekten Handelns durch den Aufsichtsrat sollte dabei eine unmissverständliche Unternehmens-Governance bilden – eine Grundlage mit klaren Regeln für genau auch solche Fälle. „Entscheidend ist es dabei, das Sachliche vom Emotionalen zu trennen“, beschreibt es der Rechtsanwalt.
Rechtliche Klarheit und feste Standpunkte gerade beim Thema „Liebesbeziehungen im Büro“ werden zudem immer wichtiger ob des erkennbaren „Werte-Gaps“, der sich zwischen Kontinentaleuropa und den Vereinigten Staaten unter US-Präsident Donald Trump auftut. In den USA sind nach Eckhardts Worten Liebesbeziehungen unter Mitarbeiter*innen in vielen Unternehmen nach wie vor generell verboten. Besonders persönliche Verfehlungen einzelner Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglieder werden dort seit jeher strenger geahndet als in Europa. Ob und wie sich diese Praxis nun unter der neuen politischen Führung und deren Wertvorstellungen verändert, bleibt abzuwarten. Letztlich könnte dies aber auch Andy Byron von Astronomer zum Verhängnis geworden sein; dessen Unternehmen hat seinen Sitz in New York. Im Fall von Nestlé-Ex-Chef Freixe könnte eine wichtige Rolle in der Gesamtabwägung gespielt haben, dass die Schweizer 2024 rund 40 % ihres Umsatzes in den USA erzielt haben. Die Vereinigten Staaten sind damit der wichtigste Einzelmarkt für den Konzern. Anhaltende Unruhen um den CEO können da schnell Milliardenumsätze gefährden.
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