„David Ricardo ist mächtiger als Donald Trump“

Eine Krise folgt gefühlt der nächsten. Politik und Wirtschaft sind vor allem damit beschäftigt, die akuten Brände zu löschen. Was dabei fehlt, sind die Perspektive und ein langfristiger Plan. Genau diesen fordert und formuliert Gerald Braunberger in seinem jüngst erschienenen Buch „Neustart für Deutschland. Mit einer Grand Strategy aus der Krise“. Im Interview skizziert der „FAZ“-Herausgeber, was jetzt zu tun ist und welchen Beitrag Aufsichtsrät*innen dabei leisten können.

Herr Braunberger, Sie plädieren für eine „Grand Strategy“. Was genau verstehen Sie darunter – und was soll das Deutschland bringen?

Eine Grand Strategy versucht, die großen Ziele eines Staates zu definieren. Der entscheidende Punkt dabei ist: Diese Ziele werden an den Ressourcen gespiegelt, über die ein Land verfügt. Der britische Historiker Paul Kennedy hat vor rund 40 Jahren ein Buch geschrieben über den Aufstieg und Niedergang großer Mächte. Zentrale Erkenntnis: In der Geschichte sind viele Staaten daran gescheitert, dass sie ihre eigenen, meist wirtschaftlichen, aber auch technologischen oder militärischen Ressourcen völlig überschätzt hatten.

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Wo genau haben wir Deutsche uns überschätzt?

Es sind drei zentrale Abhängigkeiten, die uns heute massive Probleme bereiten. Erstens: Wir waren und sind noch über lange Zeit militärisch von den Vereinigten Staaten abhängig. Unsere Energieversorgung und -sicherheit hing lange Zeit überwiegend von russischem Gas und Öl ab – und dem Irrglauben an: „Der Russe liefert immer.“ Und, drittens, der deutsche Exporterfolg der vergangenen Jahre hatte einen dominierenden Treiber: das Wachstum Chinas. Leider zeigt sich heute, wie fragil all diese scheinbaren Gewissheiten und Grundpfeiler unserer Politik und Wirtschaft waren. Die US-Amerikaner – und das nicht erst seit der neuen Präsidentschaft Trumps – kehren Europa zunehmend den Rücken. Die Russen bedrohen uns und haben ihre Energie als Waffe eingesetzt. Und in China brechen nicht nur die Verkaufszahlen deutscher Automobilkonzerne ein; vielmehr erobern zugleich höchst preisintensive wie innovative chinesische Firmen den europäischen Markt.

Und all das hätte in dieser Dimension mit einer Grand Strategy verhindert werden können?

Wir hätten uns mit einer Grand Strategy vermutlich niemals auf diese Abhängigkeiten eingelassen. Oder zumindest wäre viel früher, als noch Zeit zum Umlenken gewesen wäre, eine öffentliche Diskussion etwa über die immense Abhängigkeit von russischem Gas entbrannt. Auch die Grand Strategy bietet keine Garantien und bewahrt nicht vor jedem politischen Fehler. Aber sie bildet eine Art intellektuelle Rückversicherung. Sie hilft dabei, ein demokratisches, freiheitliches und der sozialen Marktwirtschaft verpflichtetes Deutschland auch in einer unruhigen Welt zu verankern. Eine Grand Strategy spiegelt von der Mehrheit der Menschen getragene Grundüberzeugungen wider, die wie ein Kompass den Weg auch in undurchsichtigen Zeiten weisen.

Was hindert denn etwa die aktuelle Bundesregierung daran, eine solche Grand Strategy zu formulieren?

Eine Grand Strategy wird nicht von einer Regierung verabschiedet, sondern im rationalen Diskurs einer bürgerlichen Gesellschaft verhandelt. Die Strategie sollte sich auf Fachwissen stützen, darf aber nie zum Elitenprojekt werden. Sonst verliert sie den Rückhalt. Das Konzept und die Inhalte müssen in der Öffentlichkeit vorgestellt und diskutiert werden.

Die Grand Strategy als Thema für Durchschnittsverdiener*innen in Berlin, Bautzen oder Bielefeld?

Untersuchungen belegen, dass den Menschen die scheinbar großen Themen wie Geopolitik und Geoökonomie alles andere als egal sind. Es ist nur wichtig, dass sie die Auswirkungen globaler Entwicklungen auf ihren direkten Alltag erkennen und nachvollziehen können. Hierfür spielen Medien eine wichtige Rolle. 

Welche Länder haben denn eine Grand Strategy?

In Frankreich und Großbritannien überträgt sie sich ungeschrieben von Generation zu Generation. Auch die Vereinigten Staaten nach 1945 hatten eine Grand Strategy – angefangen über die Containment-Politik über den Marshall-Plan bis hin zur Gründung der NATO. Mit all diesen Maßnahmen wollten die US-Amerikaner verhindern, dass Russland in Europa, Asien oder auch dem arabischen Raum an Einfluss gewinnt. An dieser Politik haben über Jahrzehnte alle Regierungen, ob demokratisch oder republikanisch geführt, festgehalten.

Wie sieht denn auf den Punkt gebracht Ihr Wunschbild der deutschen Grand Strategy aus?

Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen: Wir sind wirtschaftlich angeschlagen, wir sind technologisch rückständig, wir sind militärisch zu schwach und werden auf lange Zeit an den US-Amerikanern hängen. Daher gehören zu einer deutschen Grand Strategy ein festes Bekenntnis zum Westen und zur NATO, eine – wenn auch schwierige – Beziehungspflege zu den Vereinigten Staaten, die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit in Europa und gute partnerschaftliche Beziehungen zu wohlwollenden Nationen in anderen Gegenden der Welt.

Und welche wirtschaftlichen Eckpfeiler müssen einbezogen werden?

Wir müssen uns dafür stark machen und selbst überzeugt bleiben, dass trotz aller politischen Eingriffe etwa in Form von Zöllen oder Sanktionen die grundlegende Idee der Schaffung von Wohlstand durch wirtschaftliche Offenheit überdauern wird. Anders gesagt: Das Freihandelstheorem des britischen Ökonomen David Ricardo wird sich als stärker erweisen als die protektionistischen Neigungen amerikanischer und chinesischer Staatspräsidenten.

Die Ideen eines Nationalökonomen des 18. Jahrhunderts sollen uns heute gegen Trump, Xi und Putin schützen – meinen Sie das ernst?

Ja, David Ricardo ist mächtiger als Donald Trump. Das hat die Vergangenheit bewiesen und das gilt auch für die Zukunft. Auch Donald Trump wird mit Blick auf seine Wählerschaft und die importierte Inflation nicht dauerhaft gegen die ehernen Gesetze der Außenwirtschaftslehre handeln können. Auch in Sachen Globalisierung, die von vielen ja bereits wieder zu den Akten gelegt wird, bin ich optimistisch. Sie ist ein dynamischer Prozess und kein statischer Zustand. Sie kann sich auch an ein schwierigeres Umfeld anpassen. Und auch wenn ich das Wort sonst nicht so mag – sie ist für ein auf den Export angewiesenes und ressourcenarmes Deutschland „alternativlos“. Für Deutschland empfiehlt es sich, zusammen mit seinen europäischen Partnern eine Außenwirtschaftspolitik zu betreiben, die internationale Märkte so offen lässt wie möglich. Dazu sollten wir zunächst vor der eigenen Haustür kehren: Nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds entsprechen die offenen und verborgenen Handelshemmnisse im europäischen Binnenmarkt einem durchschnittlichen Zollsatz von 45 Prozent, für Dienstleistungen gar von 110 Prozent. Das ist deutlich mehr als die von Donald Trump verhängten Zölle für Waren aus Europa.

Was genau erwarten Sie denn von Unternehmer*innen und Aufsichtsrät*innen? Was können und müssen diese zur Formulierung der Grand Strategy beitragen?

Sie sollten sich engagieren, das Thema diskutieren und sich in den vielfältigen Kreisen, Runden und auf Bühnen einbringen. Richtigerweise geschieht genau das bereits verstärkt – vor allem durch die lehrreichen Schocks infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine sowie die veränderte Politik Pekings und Washingtons. Zugleich erleben wir – Stichwort: jüngste Chipkrise in der Automobilindustrie –, dass einzelne Unternehmen und wir als ganzes Land in Sachen Resilienz noch viel verbessern müssen.

Zur Person

Gerald Braunberger trat nach Banklehre und Volkswirtschaftsstudium 1988 in die Wirtschaftsredaktion der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ein. Von 1995 bis 2004 war er Korrespondent in Paris, nach drei Jahren bei der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ dann zwischen 2007 und 2019 Ressortleiter Finanzen bei der „FAZ“. Seit 2019 ist er einer von vier Herausgebern.

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